Eine Odyssee durch ein fantastisches Märchenmittelalterland, die gleichzeitig Fabel und episches Drama ist: Bei Masashi Andōs Regiedebüt The Deer King drängt sich der Vergleich zum Anime-Klassiker Prinzessin Mononoke immer wieder auf.
Masashi Andō, einer der beiden Regisseure von The Deer King (Shika no ou, 2021), war in seiner Karriere schon an dem ein oder anderem modernen Anime-Klassiker beteiligt. Animator war er bei Isao Takahatas Die Legende der Prinzessin Kaguya (Kaguya-hime no Monogatari, 2013), als Animation Director hatte er zentralen Einfluss auf Satoshi Kons Paprika (Papurika, 2006) oder Makoto Shinkais Your Name. (Kimi no na wa., 2016). Und für kurze Zeit war er eben auch so etwas wie die rechte Hand von Hayao Miyazaki – bevor sich die beiden überwarfen. Zusammen hatten sie Prinzessin Mononoke (Mononoke Hime, 1997) und Chihiros Reise ins Zauberland (Sen to Chihiro no Kamikakushi, 2001) geschaffen: jene Filme also, die nicht nur in Japan Zuschauerrekorde aufstellten, sondern für Miyazaki den letzten Schritt in den westlichen Mainstream bedeuteten.
Handzeichnungen-Retrolook
In The Deer King greift nun eine Krankheit um sich, die durch eine Meute von Wölfen übertragen wird. Wie von Tollwut getrieben und von einer gallertartigen Masse umgeben, stürmen sie aus den Wäldern hinaus und fallen über die Menschen her. Als eine Mine voller versklavter Arbeiter Ziel einer solchen Attacke wird, wird der Kriegsgefangene Van von einem der Wölfe gebissen. Doch nicht die Krankheit erwischt ihn, stattdessen ist sein rechter Arm nun wie besessen und Quell übernatürlicher Kraft. Und da Andō seinem Film einen Retrolook verpasst, der schlicht nach Handzeichnungen und nicht nach Computeranimation aussieht, fallen die Parallelen zu dem dämonischen Eber oder der Armverletzung von Prinz Ashitaka nur noch mehr auf. Kurz: Bei Andōs Regiedebüt drängt sich immer wieder der Vergleich zu Prinzessin Mononoke auf.
Zwei Völker leben im Clinch miteinander. Das Kaiserreich von Zol hat Aquafa eingenommen. Die Gräben zwischen den beiden sind tief. Aquafa rebelliert, und Zol sendet eine Strafexpedition aus. Eigentlich ist die Grundsituation simpel. The Deer King ist deshalb aber nicht gleich übersichtlich. Schachartige Palastintrigen zwischen dem Kaiser Zols und dem Fürsten Aquafas, fanatische Hardliner, die den über Jahre gehegten Hass als Seuche über das andere Land kommen lassen, ein Arzt, der sich auf die Suche nach der Ursache und dem Gegenmittel zu der Krankheit macht, Van, der mit seiner Vergangenheit als Teil einer Miliz hadert, und ein Kind, das ebenso wie Van sowohl die Immunität gegen die Seuche in sich trägt als auch potenzielles Gefäß für den Geist des Anführers der fanatischen Wolf-Milizen ist: All das bildet den Hintergrund einer Odyssee durch ein fantastisches Märchenmittelalterland, die gleichzeitig Fabel und episches Drama ist.
Zen-buddhistischer Fluchtpunkt
All das ist aber auch Ausdruck von einander widerstrebenden Kräften, die ein allzu einfaches Schwarz-Weiß verkomplizieren. So wird die Handlung regelmäßig mit ruhigen Impressionen einer harmonischen Natur konterkariert. Technik und Fortschritt als Gegenpole zu dieser unschuldigen Natur führen jedoch nicht zu ihrer Zerstörung. Mit einem wissenschaftlichen Geist findet sich nämlich der Schlüssel, um nicht von den Gegebenheiten der Welt abhängig und ihr untertan zu sein. Stattdessen sind es Hass und Schmerz – die Folgen von Machtpolitik und die Insistenz auf Auseinandersetzung –, die sich in die Natur eingraben und sie umarbeiten. Weshalb der Film auf einen populistischen, zen-buddhistischen Fluchtpunkt zusteuert.
Auch wenn das hier zuletzt zu anderen Schlüssen führt und an anderen Punkten ankommt, so weckt genau dieser Weg der Fabel, der Odyssee zwischen Natur und menschlicher Zivilisation, die Erinnerung an Prinzessin Mononoke. Aber bei beiden Filmen ist eben auch der Weg das Ziel. Das Abenteuer, das zu bestehen ist, die Menschen, Lebewesen und seltsamen Landstriche, die kennengelernt werden, sie machen beide aus. Und da liegt vielleicht das größte Problem von The Deer King. Er ruft ständig die Assoziationen zu einem Film auf den Plan, der sowohl in seinen liebenswerten Details wie in seiner epischen Kraft den Epigonen alt aussehen lässt.
Menschliche Wärme statt Gefühlsachterbahn
Weder gibt es Miyazakis Trademark der zuckersüßen Wesen – im Fall von Prinzessin Mononoke die kleinen Steinkreaturen –, noch sind die Hirsche von so überirdischer Majestät, noch haben die dramatischen Spitzen die albtraumhafte Qualität. The Deer King ist gewissermaßen der biedere der beiden Filme. Oder freundlicher ausgedrückt: der gesetztere, der seine eigenen Qualitäten hat. Statt nach emotionaler Achterbahnfahrt strebt er eher nach zwischenmenschlicher Wärme. In seiner überhöhten Mittelalterwelt voller Konflikte und Wahnsinn sucht er nach der Schönheit – und davon hat er viel zu erzählen und zu zeigen.
Vielleicht ist das größte Problem damit nicht, dass The Deer King ein ziemlich schöner Film mit Hang zum Soliden ist, sondern dass Masashi Andō selbst daran beteiligt war, die Messlatte extrem hochzulegen. Mit einer Filmografie wie der seinen kann ein nur guter Film eben auch ein wenig wie eine Enttäuschung wirken.